Von Büchern

Der Zug Fortschritt rollt. Mal ist es schön im Abteil mitzufahren – mal möchte man sich vor die Gleise werfen. Das elektrische Buch wird kommen. Früher oder später. Die prognostischen Freudengesänge im Land der digitalen Eingeborenen klingen laut und tönen wohl. Und plötzlich findet man sich selber auf der anderen Seite der Digitalität wieder – als Verfechter des Papiers.

Ich liebe Bücher. Ich lese Bücher. Ich sammle Bücher in selbstgebauten Schränken. Ich mag schöne Dinge, die sich nicht mit einen Knopfdruck an- und ausschalten lassen. Für mich ist es nicht nur die Haptik der Bücher beim Lesen, es ist nicht die existenzielle Verteidigung eines Geschäftsmodells. Ich bin weder Verleger, Buchhändler, noch Bibliothekar.

Beschriebene, bebilderte Papierseiten im Einband. Ich mag Bücher so wie sie sind. Die Träume vom ständig und überall verfügbaren Medium, vom Roman als preisgünstige Datei und von der totalen Digitalisierung sind mir fremd. Die Utopie der Digitalität – die Vereinfachung des Alltages und die Möglichkeit der Konzentration auf das Wesentliche, Zeitersparnis und Lebensqualität sind vielleicht nicht endgültig gescheitert, zum heutigen Zeitpunkt aber ins direkte Gegenteil verkehrt Da wird mir sicher jeder beipflichten, der auch in einem Büro arbeitet. Die Erweiterung des Lebens ins Digitale hinaus fand ich nie verkehrt, die Verwandlung unter dem Banner des bedingunslosen Fortschritts habe ich ich aber immer kritisch betrachtet, die Vision einer vollkommen vernetzten Welt, die sich im Wunsch nach Entmaterialisierung stattdessen digitalisiert, ebenso.

Aber warum also nicht einen E-Reader auf dem man jedes Buch zu günstigsten Konditionen laden kann, dass witterungs- und wetterfest mit schier endloser Batterielaufzeit aufwartet und handlich praktisch gut lesbar in der Handtasche getragen werden kann? Weil…

Fremde Welten im Bananenkarton. Gefüllt mit Chiquitas über den Ozean gekommen, ein um- und dafür vorzüglicher temporärer Wohnersatz für verstaubtes und muffiges Papier. Heimat dieser elterlichen Sammlungen war der Dachboden. Seitdem ich lesen konnte, las ich. Mit dem Öffnen einer dieser Kisten explodierte die kindliche Welt und es tanzten Personen und Geschichten fremder, vergangener und nie dagewesener Zeiten durch die Vorstellungskraft. Eine Wundertüte aus Papier. Eine Entdeckungsreise, um unter Stapeln aus Welten noch eine andere zu finden, unter Koch- und Pflanzenbüchern etwa die Erlebnisse eines Rulaman in der Steinzeit.

Bibliotheken. Es gab drei in meinem Leben. Die kleine Schulbücherei, nach maximal drei Wochen durchgelesen (Zeit verringert sich mit der Erinnerung). Später zwei Stadt – euphemistisch hier für Dorf- Büchereien, deren Abenteuer, dann Detektiv, dann Fantasy-Abteilungen zweite Wohnstätte bei mir hatten. Schon mal in einer Bücherei von dem Buch aufgewacht und gemerkt, dass es dunkel geworden ist und fast alle Leute gegangen sind?

Antiquariat. Da ist dieser eine Trödelmarkt, den ich immer wenn, dann zwiespältig betrete. Einerseits eine Goldgrube. Eine fabelhafte Ein-Knopf-Espressomaschine (ohne „Sänseo-Pääds“) für – ach, sagen wir mal 8 € und mit der Platte und dem Buch… Komm, gib mir einfach 10 Euro. Andererseits der zeitraubende Besitzer. Ein wandelndes Lexikon, gesprächig wie ein Eremit nach zwanzig Jahren ungebrochenem Schweigegelübde. Ich sah einen Originalbrief Napoleons und erfuhr die Chronik einer am Bodensee mit Napoleon in Kontakt gekommenenen Familie über zwei Jahrhunderte und dementsprechend vielen Generationen.
Jedenfalls – es geht um Bücher – kam ich als Jungspund, eher des heimlichen Rauchens und Nippen an Biergläsern verdächtig, in diesen Laden, einem Trödelladen wie er – ha – im Buche steht. Ich wollte ein Abenteuerbuch käuflich erwerben, was der Trödelmarktbesitzer jugendsprachlich wiedergegeben „strange“ fand. Er meinte, falls das Buch für mich wäre und falls ich es wirklich lesen sollte und falls ich ihm die Geschichte kurz nacherzählen könnte – würde er mir noch ein paar weitere Bücher schenken. Das Buch entpuppte sich als mäßiger Roman. Inhaltlich eine chinesische Abenteuer-Geschichte, hatte er aber den fernöstlichen Flair eines deutschen Asia-Imbisses, wohl weil von einem deutschen Hinterzimmerschreibtischdimpel geschrieben. Selbst als hartzahniger Bücherwurm – Buch ist Buch – kaute, kaute, kaute und spuckte ich das zähe Ding ab Kapitel III schließlich wieder aus.
Aus Scham und hey – neben diversen unaufgezählten Dingen (man darf das ja auch nicht herorisieren und ob das inzwischen verjährt ist, weiß man auch nicht) hatte ich zwischenzeitlich Mädchen, das Internet (im gewissen Alter auch die Kombiversion) für mich entdeckt – sollte ich erst Jahre später wieder in dieses wunderliche Etablissment kommen. Trotz erlebnisreicher Kindheit am „Sandkasten Battleground“ konnte ich mich noch detailgetreu an unsere damalige Begegnung erinnern – auch wenn sie sich etwas mit Bastian Balthasar Buxens antiquarischen Erlebnissen vermischt hat. Der Trödler erinnerte sich nicht. Er schenkte mir trotzdem etwas. Ein paar Schrankgriffe, die sich öffnenderweise durchaus mit Büchern befassen werden, wenn der neue Schrank mal endlich fertig ist. Vielleicht grabe ich das Buch von damals wieder aus und stelle es rein. Damit die Schlange sich in den Schwanz beißen und der Kreis sich schließen kann.

Kinderkiste. Der Moment, als ich etwas auf dem Dachboden suchte und stattdessen die Kiste mit meinen Kindernbüchern fand, ist trotz aller Erinnerungsduseligkeit in diesem Artikel, bei weitem zu sentimental und intim. Der Vollständigkeit halber wollte ich ihn aber nicht unerwähnt lassen (Dokumentiert auch mit100er Box Taschentücher, Blatt 1 bis 36. Im Besitz von MB Michelberger GmbH & Co. KG – Der Partner für Entsorgung und Recycling)

Vom Suchen und Finden der Bücher. Die meisten meiner Bücher haben neben ihrem Inhalt ihre eigene Geschichte. Widmungen, gepresste Kleeblätter oder Blumen. Erbstücke. Vom Freund geliehen und nie zurückgegeben (sorry Daniel, aber falls wir uns das nächste Mal sehen…). Im Zug gefunden. In Indien gekauft, dort aus Gewichtsgründen verkauft, wieder in Deutschland ein anderes Exemplar gekauft. Einem Freund verliehen, wieder als Regenopfer zurückbekommen, ein Neues von ihm geschenkt bekommen. Eins mit dem Foto einer Ex-Freundin. Ein London-Reiseführer, der mir irrtümlich zugeschickt wurde, als ich „Herr Lehmann“ bestellte und den ich behalten durfte. „Der Mann im Strom“ dessen Lektüre mir im Bus das hübsche Lächeln einer gleichfalls lesenden und gleichfalls hübschen Frau einbrachte. Schillers gesammelte Werke, ungelesen, aber vorgenommen (Langzeitprojekt: in mindestens zehn Jahren). Ein Houellebecq, am Tag vor der Abiturfeier gekauft und den halben Vormittag auf einer Bank am See gelesen…

…Deswegen. Ich will meine Bücher nicht nicht in einem Download-Katalog im Dropdown-Menü als E-Book für den E-Reader auswählen (und das nicht nur wegen den Anglizismen). Ich will meine Bücher nicht alle in der selben Form lesen. Sie dürfen und müssen groß, klein, liebevoll gestaltet, schlechtgedruckt, gebraucht, durckfrisch, eselsohrig und kaffeefleckig sein.
Wer das Buch aber nur als Träger von Informationen betrachtet, mag das E-Book begrüßen, weil es Komfort, schnellen Konsum und Quantität in uniformer Hülle und riesiger Fülle bietet. Darüber braucht man nicht diskutieren. Da biete auch ich keine Argumente zum Tausch. Da bin ich gerne das haptische Gewohnheitstier, dass sich mit Druckbuchstaben auf totem, gepresstem und getrocknetem Baumpüree sehr wohl fühlt. Da bin ich eben Sentimentalist und hänge an vergangenen, jetzigen und künftigen Erinnerungsstücken. Bei mir visionär ist nur eine große, eine eigene Buchsammlung, die nicht zwischen den Ordnern [mp3s], [movies] und [stuff] als [e-books], sondern in Regalen liegt.

Was man sich kurz, direkt und immer nach dem Schreien von „Hurra“ bei einem weiteren Schritt des Fortschritts fragen sollte: Was verschwindet? Was bleibt? Was kommt? Und: Ist es das wert?

17 Kommentare

  1. Volle Bücherregale sind Lebensqualität, zumindest für mich.
    Aber naja, ich meine meine Kollegen gucken mich ja auch komisch an weil ich immern Notizbuch neben dem Notebook liegen habe ;)

  2. Bei Dateien muss man sich den Wert erst suchen. Ich versuche das zuweilen, in dem ich mir den Umstand merke, unter dem ich eine Datei bekommen habe. Habe neulich mal was blödes drüber geschrieben:

    http://socialissuesandstuff.com/2008/09/30/musik-mit-loschschutz/

    Aber aufgrund der Unsichtbarkeit einer Datei und der schieren Masse ist das in der Gesamtheit unmöglich.

    Bei Büchern fliegen einem die Werte ja förmlich zu. Das hast Du oben sehr schön ausgeführt. Solche Momente merkt man sich einfach. Als wir damals ein Haus geerbt haben und ich in meinem Kinderzimmer die kleine Tür zum angrenzendem Dachboden entdeckt habe, holla die Waldfee. Vergilbte Welktkriegsliteratur und noch viel älteres, soweit der Raum reichte. Ich habe mich nichtmal ganz hinein getraut, weil ich Angst hatte, unter der Last dieser vielen Bücher bricht der Boden ein. Allein der modrige Geruch lässt mich wieder 8 werden.

    Wir tun uns grade schwer, einen Platz für ein weiteres Regal zu finden, da es langsam zu viel wird. Ich kann aber nicht sagen, ob das jetzt ein Nach- oder ein Vorteil von Büchern ist. Bücher sind die schöneren Tapeten.

    Ach ja, bei Twitter bin ich auch ganz bei Dir. Ging mir vor ein paar Wochen genau so. Ich merkte, dass ich Leuten followe, die grade von Meetings kamen und jetzt noch komische Sachen essen. Da habe ich gleich mal ein Dutzend rausgeschmissen und dafür sind jetzt schon wieder neue drin. Ich glaube, irgendwann hilft da nur noch ein radikaler Bruch.

  3. Zustimmung in allen Punkten. Und auf die Kinderkiste freue ich mich schon jetzt.
    Einen Grund gibt es allerdings, der für e-Books spricht: die Suchfunktion. Oft ertappe ich mich dabei, dass ich beim Lesen gedanklich Steuerung-F drücke, weil ich schnell mal weiter vorne etwas nachschlagen möchte.
    So gesehen sage ich „ja“ zum e-Book für Sachbücher, auch weil mir der Regalplatz dafür eigentlich zu schade ist. Alles andere will ich in die Finger nehmen.

  4. Ha! Ob du’s glaubst oder nicht! Ich wollte schon lange etwas über das gleiche Thema schreiben, allerdings ist das Medium bei mir Tonträger versus MP3 (o.Ä.).

    Hast du was dagegen, wenn ich deinen Artikel Strg-Ce und dann bei mir Strg-Ve. Ich tausche selbstverständlich die Pro- und Antagonisten aus ;-)

  5. vor ein paar jahren, da gab es schon mal diese gerede, als die ersten e-books aufkamen. kleine bildschirme und co. die bücher verkauften sich auch gerade nur noch schleppend und das ende war nah, sagten die hersteller dieser elektronikartikel. kurze zeit später verkauften die verlage bücher in ungeheurer stückzahl, der buchhandel florierte und die erste generation der e-books verschwand vom markt und der hellseher wurde arbeitslos. eine cd ist kein haptisches erlebnis sondern schränkt vor allem ein, großer player.
    ein buch jedoch werden die menschen immer allem schnickschnack vorziehen, denn es beruhigt die augen und die nerven und auf einem bildschirm schauen wird nie ein lesevergnügen!

  6. @Fred: Das Schreiben auf Papier hat doch eben noch eine ganz andere Qualität. Mein Notizblock ist auch ein Sammelsurium aus Blättern, Blöcken und Einkaufszetteln. Sehr schön sagt das auch Peter Glaser in seiner Netzkolumne: Stift oder Maus?. Manchmal denke ich über die Anschaffung einer Schreibmaschine nach. Keine E-Mails. Kein Twitter. Kein Newsfeed. Dann verwerfe ich den Gedanken. Kein Speichern, nur mühseliges Korrigieren. Keine E-Mails. Kein Twitter. Kein Newsfeed. Ich weiß nicht, wie es anderen Digitalanten geht, ich selber brauche für Kreativität und konzentriertes Arbeiten Ruhe, keine Ablenkung und Reduzierung auf das Wesentliche.

    @Sebastian: Ich habe deinen Artikel gelesen, und mit manchen Dateien oder Dateiinhalten geht es mir ebenso. Wie du aber auch sagst, irgendwann wird es zuviel. Irgendwann erschlägt einen die schiere Masse.
    Wegen Twitter: Die Angst etwas zu verpassen, ja. Auch davon schriebst du schon ;) Geht mir genauso. Folgt einem jemand und es ist kein Spambot, dann klickt man auch allzu schnell [Follow]. Ich denke nicht an einen radikalen Bruch, aber über eine Reduzierung auf Leute, die ich kenne oder die ich sonst als schreibende Menschen schätze. Dann wäre ich etwa bei 25 Leuten. Dann hieße es einfach, konsequent und dabei zu bleiben. Aber dieses Twittern ist wirklich arg, einerseits ein herrliches Ding, andererseits ein blödes zeitfressendes Monster.

    @uli: Eine friedliche Koexistenz beider Buchformen wäre natürlich schön und „Dateien“ als Wissensträger würde ich auch befürworten (ich sag einfach Wikipedia). Ein Fachbuch, in dem man suchen, verlinken und etwas notieren kann, dagegen habe ich auch nichts.

    @juf: Oh ja. Tolles Ding. Was es nicht alles gibt.

    @Fabian: Oh ja. Gerade nach einigen Jahren Hör- und Fühlerfahrung sollte man mal unbedingt ein mp3-Resümee ziehen. Ich hab da – gerade bei diesem Artikel – auch dran gedacht. Schreib was drüber, unbedingt!
    So so Strgehen und Vauen, im Fach „Medienrecht“ wohl nicht aufgepasst ;)

  7. Bin gerade über einen Artikel zum selben Thema gestoßen, allerdings mit anderen Ansichten…
    http://www.spreeblick.com/2008/10/22/die-buchmesse-im-digitalen-zeitalter/#more-11265

    Aber mal ernsthaft: Wem bitteschön macht es Spaß, 1200-Seiten-Wälzer in krampfhafter vor-Bildschirm-Position zu lesen, wo einem nach spätestens zwei Kapiteln Digitalgeflimmer die Augen weh tun?
    Es geht eben nichts über das gemütliche „Sich-mit-einem-schönen-Buch-in-die-Ecke-fläzen“. Jawoll.

  8. Der große Durchbruch des e-books, jetzt endlich durch den e-Reader. Ich lese das. Aber ich sehe das nicht kommen. Meiner Ansicht nach ist das nur der nächste „Zune“.
    Geschäftsleute. Vielreiser. Ja. Die vielleicht. Eine Notlösung. Keine Weiterentwicklung.

    Keine Weiterentwicklung, weil diesbezüglich keine denkbar ist. Du hast es wunderbar geschrieben. Der Wert eines Buches geht über das Buch hinaus. Bücher sind mehr als Papier, ihr emotionaler Wert grenzt an den des geliebten Erinnerungsfotos im Rahmen an der Wand oder auf dem Nachttisch. Die in unserer Kultur mit Büchern assoziierte Emotionalität lässt sich nicht digitalisieren. Jedenfalls noch nicht. Genau aus dem Grund, aus dem ein Text wie Deiner sentimental macht und solche Zustimmung erntet: Wir sind nicht soweit.
    Das Buch in seiner Gestalt lässt sich sicher optimieren. Aber unsere Verknüpfung mit Büchern nicht.

    Noch einmal: Ein wunderbarer Text! Danke dafür!
    Neben mir liegt „Die Straße“ von Cormac Mc Carthy. Mit Lesezeichen und einem Eselsohr. Unersetzbar. Zwei Kerzen stehen bereit. Lesen ist Anfassen, Knicken und Rascheln. Ich liebe das.

  9. @Narya: Mit dem E-Buch vor der Kamin-Attrappe. Gruselige neue Welt.

    @hoch21: „Die in unserer Kultur mit Büchern assoziierte Emotionalität lässt sich nicht digitalisieren.“

    Genau das meinte ich. Funktionalität, Vereinfachung und Virtualität ist das Ziel der digitalen Evolution. Da bleibt aber einiges auf der Strecke, das einen anderen Wert für uns besitzt.

  10. Ich sehe das Buch als wichtige Entwicklung für das wissenschaftliche Arbeiten…es ermöglicht effektiveres Arbeiten und bringt einige Vorteile, vor allem im universitären Bereich und für die IT-Branche, Juristen usw, die eben ziemlich viele Bücher benötigen….
    Aber das Buch wird im privaten ganz sicher nicht verschwinden. Dafür schenkt uns die Blattsammlung zuviele Eindrücke…

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