Geplagt mit einer Schlaflosigkeit von Proust’schem Ausmaß, flankiert von Angriffen heimtückischer Mücken suchte ich mir Hose und Hemd, verließ das Haus und ging in die Nacht. Trotz jugendlicher Arroganz dem eigenen Schlafbedürfnis gegenüber, finde ich, dass man Betten und Schlafen durchaus mit allerlei netten Adjektiven bedenken sollte. Wider den Unkenrufen, dass man auch schlafen könne, wenn man tot sei. Ich habe diesbezüglich nur wenig Erfahrungswerte, glaube aber, dass das Totsein als Betätigung nur wenige Nebenbeschäftigungen zulässt. Abgesehen von dem Rotieren im Grabe, dass bei prominenten Personen und Persönlichkeiten wohl schon beim Verfassen der Nachrufe eintreten könnte. Möglicherweise würde sich so sämtliche Energieprobleme der Welt lösen lassen. Den Bewegungsmoment vergangener, zukunftsbedachter Menschen in Strom umwandeln. Im von ruhelosen Gedankenarchitekten angetriebenen Lampenlicht ein gutes Buch lesen oder sich mit 2.500 Watt gescheitertem Idealismus ein Spiegelei braten. Marx rotier schneller, du Sau – das Ei wird wieder kalt! Warum man die Idee aber wieder begraben – kontextsensitive Ververbisierung! – kann, ist klar, zu schwierig ist die Umsetzung aus der Sprichwörtlichkeit.
Es ist die Dunkelheit, die einem beim nächtlichen Wandern weich aus dem Bett in die Nacht trägt. Ich liebe diese Zeitlosigkeit im sonst so genau getakteten Leben. Allein. Einsamkeit ist scheiße. Das bringt es auf den Punkt. Undrastischer kann man es wohl auch nicht ausdrücken. Alleinsein dagegen ist in Ordnung. Manchen Momenten genügt es, wenn nur die Gedanken Begleiter der Füße sind.
Die Straßenlaternen waren schon lange aus. In der Ferne blinkte unermüdlich ein Wetterleuchten, wie das Flackern einer Neonwerbetafel in amerikanischen Spielfilmen nach 22:30 Uhr auf Kabel 1. Dunkle Mais- und Weizenfelder, in der Ferne zerfahren von Lichtkegeln. Der auf Anschlag hochgedrehte Motor heimkehrender Großraumdiscobesucher. Weit weg. Das Rascheln von Tieren in den Feldern. Ganz nah.
Wer an der kleinen Straße, die nur in den Wald führt, damals eine Bank aufgestellt hatte, wussten wir nicht, nutzten früher aber gerne die Möglichkeit auf ein nächtliches Brauereierzeugnis vorbeizukommen. Hier rauchten wir unsere ersten selbstgedrehten Zigaretten.
Meine Füße trugen mich weiter am Weg entlang, vorbei an den „Sieben Tannen“, benannt nach den Bäumen, die in dieser Anzahl nie dort gestanden hatten. Wer sich damals verzählt hatte, ist heute aber nicht mehr verbürgt. Im Laufe der Jahre wurde jedoch einer nach dem anderen gefällt, bis nur noch eine Zwillingsfichte, um es mal biologisch präzise zu klassifizieren, das Feld „säumte“.
Wer die Angst verliert, verliert auch den Mut. Er wird eben nicht mehr gebraucht. Der dunkle Wald hat sehr viel an Schrecken für mich verloren, in den letzten Jahren. Die Existenz böswilliger Kreaturen, die einem in nächtlichen Spaziergängen ans Leder wollen, erkenne ich ja immer noch an, allerdings war ich jetzt mit Autan gewappnet. Ein glückliches Mitbringsel des abendlichen Sitzens im Garten mit Zigaretten, Bier, Wein und den Gesprächen über die US-amerikanische Außenpolitik im August 1973, vielleicht auch noch Anfang September. Wir könnten auch über das Wetter geredet haben.
Das seltsame Empfinden von Unwirklichkeit. Ja, die träumerische Betrachtung des eigenen Lebens, der Liebe, dem Kochen von Gemüse, dem Schmerz und der Freude. Der sich immer mehr verhärtende Verdacht, allzeit so etwas wie Schlafzuwandeln. Als Konsument des eigenen Lebens zu existieren. Die Momente, in denen man sich früher als Blatt, treibend im Wind vorkam, bis man dann einen besseren Geschmack für Metaphern entwickeln durfte. Dennoch. Nur du allein erlangst die Klarheit. Den Moment! Draußen? Pusteblume! Die Wahrheit liegt irgendwo da drinnen. Erkennt man, wenn man wirklich allein ist (und diese Zeit nicht heimlich nur mit Nasepopeln verbringt).
Im Wald sind keine Räuber. Der Titel eines Kinderbuches, von dem keine Geschichte, sondern nur noch vereinzelte Bilder im Kopf übrig geblieben sind und hypothetische Überlegungen, welche Entscheidungsschwierigkeiten oder angemessenen Sprüche man parat hätte, wenn man in den Lauf einer Steinschloss-Pistole blicken würde. Geld oder Leben?
Zwei vorstehende Bäume, fast wie Wächter am Waldeingang. Der kühle Waldweg, dessen heller Kalksteinkies im Dunkeln unter meinen nackten Füßen zu leuchten schien. Ich schlenderte zwischen Parzellen, die seltsame Namen wie „Dunkelmoor“ und „Tannenbühl“ trugen, wohl getauft vom einem kreativen Geist des Forstwirtschaftsverwaltungsamtes (oder so) der sonst nur Bäume zählen durfte.
In einer dieser Parzellen, vielleicht war es sogar das Dunkelmoor, dachte sich einmal ein heiterer junger Mann, dass man ja dort zur Neujahrsstunde dort baden könne. Nennen wir diesen jungen Mann einmal Tim. Weil er so heißt. Wir halfen Tim damals die Zinkbadewanne und Brennholz zum favorisierten Badeplatz zu tragen, vergnügt und heiter über diese famose Idee. In Ermangelung eines Wasserboilers wurde die Wanne zu eben diesem. Tim entzündete das Feuer darunter. Der Rest seiner Geschichte musste leider ohne Augenzeugen auskommen, da er den Badeakt alleine vollzog. Jedoch für die weiteren Geschehnisse hatte er „handfeste“ Beweise. Während anderswo Punkt zwölf die Sektkorken und Böller knallten, senkte Tim seinen splitterfasernackten Körper in das wohl temperierte Badewasser. Nicht wohl temperiert, ja geradezu glühend heiß war jedoch der Beckenrand, an den Tims Hände zum Herabsenken des Körpers fassten. Auch wenn die Moral dieser Geschichte nur mit der Empfehlung des Handschuhetragens auskommen muss, es gibt wohl für wenige Narben eine erheiternde Erzählung.
Hell auch im Sternenlicht die Tümpel hier und dort zwischen den hochaufgeschossenen Fichten. Bombenkrater aus dem 2. Weltkrieg, die fehlorientierte Amerikaner auf der Suche nach einer entfernt liegenden Fabrik in den Waldboden gepflügt hatten. Im Wald herrschte eine Art laute Stille. Nicht die Abwesenheit von Geräuschen, sondern die Friedlichkeit dieser, von einem nicht näher identifizierbaren, kopulierenden Liebespaar tierischer Herkunft einmal abgesehen. Über allem schwebte das Wispern des Windes in den Bäumen. Das mag abgedroschen klingen, von mir aus – aber so hört sich das eben an.
Bevor ich kehrt machte und heimging, blieb ich dort tief im Wald stehen, mit dem seltsamen Empfindung, angekommen zu sein, berauscht von der Schönheit der Natur, der Nacht und den klaren Gedanken, die sich mit mir befassten. Zu selten hat man den Eindruckanhalten zu können. Pause. Bevor das Leben weiterdröhnt, kreischt, rennt. Man verliert so schnell das Gefühl für den Moment, man vergisst es.
Langsam, aber jetzt zielstrebig ging ich durch die kühle Dunkelheit heim. Wo warst du, fragte sie. Ich konnte nicht schlafen, sagte ich.
Ich mache mir hingegen keine Sorgen mehr, heute Nacht sehr gut schlafen zu können :)
Heute Nacht begleiteten meine Füße mich ebenfalls. Erfüllt mit Gedanken.
Keine Vergesslichkeiten für einen kurzen, aber wichtigen Augenblick.
Tolle Momente. Sie prägen dich und bleiben bei dir. Selbst dann, wenn du glaubst, diese vergessen zu haben.
So schön zu lesen, mal wieder echt eine Freude.
Ein hoch auf RedLake
Sehr schöner Text.
Ich konnte deinen Weg in Gedanken mitverfolgen und fühlte mich an der Stelle mit der Bank und den ersten Selbstgedrehten die „wir“ dort rauchten tatsächlich mit einbegriffen. Nostalgie…hach. Tim sagt es: ein hoch auf RedLake, für mich mehr auf die „jungen Tage“ des abgeschiedenen Weilers.
Schönen Gruß
Ich finde den Text wirklich sehr ansprechend… melancholisch aber trotzdem schön
LG
[ Edit: Ich finde den Kommentar wirklich sehr anmaßend… schleimig und spamig. Wann um Himmels Willen lernt ihr dreckigen Spamarschlöcher denn, dass das Internet und die Welt ein besserer, angenehmerer Ort ohne euch wäre. Wann? Wann?]