Guten Morgen, liebe Leistungsgesellschaft

Guten Morgen, liebe Produktionsgesellschaft. Guten Morgen, liebe Dienstleistungsgesellschaft.

Die Sonne geht gerade auf. Die Wolken nehmen die Sicht. Es wird aber hell, dass sieht man. Sonst könnte man nichts sehen. Der Nebel liegt noch träge am Boden, die Vögel stimmen die Stimmen für die alltägliche Morgenouvertüre. Alles schläft noch, außer Peter, der Schlafstörungen hat.
Die Bäcker füllen die Backstuben mit Backgeruch und die Öfen mit Brötchen. Der Förster streift raschelnd durch die Blätter des Waldes. Von Holz in Baumform sieht er aber nicht viel. Der Waldmensch ist zum Papierbergsteiger geworden. Sein Hund Dabo kaut einen künstlichen Knochen, den Stefanie aus Rohhautleder geflochten und mit Rindfleischaroma verfeinert hat. Sie denkt nicht über Politik nach, sondern hat ihren eigenen Haushaltsentwurf, den nur sie basisdemokratisch mit ihrem Mann Valentin abstimmt. Ihr kleiner Leon ist noch unmündig und kaut gerade auf dem Beipackzettel des Überraschungseies, der vor verschluckbaren Kleinteilen warnt.
Das polnische Au-Pair-Mädchen Ina sieht das nicht. Sie telefoniert in einem akuten Anfall von Heimweh, von der besten Freundin bis zur Tochter des großen Bruders die gesamte Freundes- und Verwandtschaftsliste durch und erfährt dabei, dass ihre demenzkranke Oma den Schuppen des Nachbars abgefackelt hat. Da das Telefon blockiert ist, erfährt sie aber nicht, dass Leons Großeltern heute abend zu Besuch kommen wollen. Ina träumt von einer Karriere als Übersetzerin. Ihr Freund Andre, der schwarz auf einer Baustelle im Schwarzwald arbeitet, träumt von einer Familie mit Ina.
Peter träumt nichts, die Schlaftabletten haben nun voll angeschlagen. Der Wecker klingelt nur seine Untermieterin Marja wach, die sich im Schlafanzug einen Kaffee macht. Sie jobt als Postbotin, weil sich ihr das anbot. Sie selber schreibt aber nur Emails und vielleicht mal eine Postkarte aus dem Urlaub. Ansonsten treibt sie es mit Peter, dem das zwar nicht viel bedeutet, der aber eine pragmatische Wohngemeinschaft zu schätzen weiß.
Der Förster parkt den Jeep vor dem Bäcker und kauft sich zwei Frikadellenbrötchen und verspeist sie an Ort und Stelle. In der BILD-Zeitung erfährt er, dass seine Lieblingsschauspielerin einen neuen Freund hat. Er hat keine Freundin. Er hat sich nur ein bisschen in seine Postbotin Marja verliebt. Im Internet schaut er sich manchmal Seiten für einsame Männerherzen an. Oder denkt an Marja, wenn er sich einen runterholt.
Valentin ärgert sich über die Wolken, die ihm die ganzen Außenaufnahmen des Fotoshootings versauen. Peter hatte ihm versprochen, dass die Sonne scheinen würde. Mit Peter hat er heute abend noch ein Hühnchen zu rupfen und ein Bier zu trinken. Valentin träumt von einer angesehenen Stellung in der Gesellschaft. Er fotografiert Mode für einen Discounter und wählt die FDP. Seine Frau Stefanie wählt die Grünen. Weil sie Tiere und den Frieden mag. In der Mittagspause trinkt sie Actimel.
Die Sonne ist auch nicht so wie sie scheint. Und gerade scheint sie nicht einmal. Ulla steht auf der Weide und grast. Dass sie auf der Weide steht, verdankt sie dem Bauern. Der weiß, dass sich auch Steaks umweltbewusst ernähren müssen. Sie liebt Gras und die Liebe geht durch vier Mägen. Milch gibt Ulla auch noch. Dass sie als Produktionsvieh ausgenützt wird, stört sie nicht. Sie weiß es ja nicht. Ina und Leon trinken Kakao. Mit Milch von Ulla in homöopathischer Dosis. Im großen Tank des Milchlasters vermischt sich die Milch von tausend Kühen, bevor sie homogenisiert, pasteurisiert und schließlich dem Endverbraucher zugeführt wird. Dem Bullen ist das egal. Er freut sich auf die nächste Deckung.
Nachmittags steht Peter auf. Er nimmt eine Kopfschmerztablette und eine zweite. Er schreibt eine SMS an Valentin. Dann geht er zum Bäcker, der bloß keine Brötchen mehr hat. Er kauft sich einen Kuchen, mit dem er sich vor einer Talkshow langweilt. Tina ist fremdgegangen, was Max scheiße findet und Tina eigentlich auch. Peter findet das alles scheiße und stellt sich unter die Dusche. Er glaubt nicht an die globale Erderwärmung, er findet Urlaub in Spanien prima. Seine Ferien verbringt er dieses Jahr aber doch zuhause.
Der Förster ist besorgt über den sauren Regen und das Waldsterben. Das sagt er dem Redakteur der Lokalzeitung. Er geht nach Hause. Über die Treppe ins Wohnzimmer. Arbeit und Privatleben soll man trennen, findet er. Er schaut Fußball und trinkt ein Bier.
Die Sonne geht unter und es wird dunkel. Das ist normal so. Leon geht mit einem Teddy schlafen. Peter und Marja mit einem Kondom der Marke DUREX, der Förster mit einem Taschentuch. Stefanie und Valentin trinken ein Glas Rotwein, dann die ganze Flasche leer.

Gute Nacht, liebe Produktionsgesellschaft. Gute Nacht, liebe Dienstleistungsgesellschaft

11 Kommentare

  1. Peter hatte ihm versprochen, dass die Sonne scheinen würde.

    So etwas ist stets gefährlich, ich würde das nicht machen.

    Im großen Tank des Milchlasters vermischt sich die Milch von tausend Kühen, bevor sie homogenisiert, pasteurisiert und schließlich dem Endverbraucher zugeführt wird.

    Und ultrahocherhitzt! Ein Wort, dass mich Jahre meiner Kindheit beschäftigt hat.

    Ein toller Text, .markus. Genau mein Fall. Und ich glaube auch zu verstehen, was Du damit meinst. Nämlich in all der Profanität, ja – Tristesse des Alltags aus Seifenopern nachempfundenen Beziehungskisten und Aufopferung zum Zweck der Selbstversicherung, der Gesellschaft von Wert zu sein, dass die Suche nach Sinn nicht mehr erstrebenswert scheint, im letzten Ende sogar zu etwas Lächerlichem wird.

    Zumindest seh ich das in dem Text. Wenn Du etwas ganz anderes bzw. gar nichts gemeint haben solltest, kannst Du dir trotzdem auf die Schulter klopfen, denn Raum für Assoziationen und Interpretationen, gelöst vom Urheber, hervorzurufen, das ist es meiner Meinung nach, was Kunst ausmacht.

  2. Danke allerseits.

    Und ich glaube auch zu verstehen, was Du damit meinst. Nämlich in all der Profanität, ja – Tristesse des Alltags aus Seifenopern nachempfundenen Beziehungskisten und Aufopferung zum Zweck der Selbstversicherung, der Gesellschaft von Wert zu sein, dass die Suche nach Sinn nicht mehr erstrebenswert scheint, im letzten Ende sogar zu etwas Lächerlichem wird.

    Frank, du hast das fragmentierte Bild schön zusammengesetzt. Wenn man die Menschen so im Trott der Alltagsmühle „funktionieren“ sieht, fragt man sich schon manchmal: „Hallo, wo gehts denn hier bitte zum wesentlichen Teil des Lebens?“
    Ach ja, citronengegrast (gecitronengrast?) zu werden, verdoppelt mal eben schnell meine Besucherzahlen ;)

  3. Ja, hab ich auch schon gesehen, aber danke. Nachricht ist raus…

    (…auch wenn ich mich dafür extra bei Windows Live anmelden musste. Grausame Sache, Opera hat sich einmal aufgehängt und die Nachricht hat es erst beim dritten Mal vollständig gesendet, davor hats mir mehrmals den Text gelöscht, weil ich was verlinken wollte….argl!)

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